Medikament gegen Lebererkrankung könnte vor Coronainfektion schützen und COVID-19-Patienten helfen
Wissenschaftler*innen vom Berlin Institute of Health in der Charité (BIH) haben mit Kolleg*innen aus Deutschland und Großbritannien herausgefunden, dass ein häufig eingesetztes Lebermedikament auch die Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 beeinflusst. Es bewirkt, dass die Anzahl der ACE-2-Rezeptoren auf den Zellen sinkt, wodurch das Virus nicht mehr so leicht in die Zellen gelangen kann. Der Nachweis gelang den Forscher*innen sowohl bei verschiedenen gezüchteten Organoiden im Labor, als auch bei lebenden Tieren und bei Menschen, die das Medikament eingenommen hatten. Ihre Ergebnisse haben die Wissenschaftler nun in der Zeitschrift Nature veröffentlicht.
Eigentlich interessiert sich Ludovic Vallier für die Leber. Der Inhaber einer Einstein Profil-Professur für Stammzellen bei Regenerativen Therapien am BIH und Max-Planck-Fellow am Max-Planck-Institut für molekulare Genetik züchtet kleine Minilebern, so genannte Organoide, um daran zu erforschen, wie Krankheiten der Leber entstehen, wie sie behandelt oder verhindert werden können. Als Fernziel möchte er die Leberorganoide auch für zellbasierte Therapien für Menschen mit Leberversagen nutzen.
Als 2020 das Coronavirus SARS-CoV-2 auftrat, widmete sich das Team um Vallier, insbesondere Fotios Sampziotis und Teresa Brevini, die mit Ludovic Vallier am Wellcome-MRC Cambridge Stem Cell Institute der University of Cambridge zusammengearbeitet haben, auch der Erforschung dieser neuen Bedrohung. „Wir waren überrascht, als wir entdeckten, dass Leberzellen sehr viele ACE-2-Rezeptoren auf ihrer Oberfläche tragen, also den Rezeptor für das neue Coronavirus. Denn bisher war die Leber nicht als besonders betroffenes Organ der Infektion oder von COVID-19 bekannt.“
Gallensäure erhöht die Anzahl der ACE-2-Rezeptoren
Anschließend erforschten die Wissenschaftler*innen, wie die Menge der ACE-2-Rezeptormoleküle auf den Leberzellen kontrolliert wird. Dabei stießen sie auf einen interessanten Mechanismus: Besonders hohe Konzentrationen des ACE-2-Rezeptors – die höchsten im menschlichen Körper – fanden sie auf den Epithelzellen, die die Gallengänge und die Gallenblase auskleiden. Diese Zellen lassen sich in der Kulturschale leicht als Organoide züchten. Allerdings verlieren sie die ACE-2-Rezeptormoleküle auf ihrer Oberfläche, wenn man sie nicht regelmäßig mit einer Gallensäure umspült.
„Als wir die Gallensäure im Kulturmedium wegließen, verloren die Zellen den ACE-2-Rezeptor. Wir konnten damit die Gallensäure als Regulator des ACE-2-Rezeptors identifizieren.“ Der Mechanismus dahinter ist allerdings noch etwas komplizierter: Die Gallensäure aktiviert den Rezeptor FXR, der seinerseits die Bildung von ACE-2 stimuliert. Ohne Gallensäure kein FXR, ohne FXR kein ACE-2.
Unterdrückung der Gallensäuren senkt ACE-2-Rezeptoren auch in Lunge und Darm
„Jetzt wollten wir natürlich wissen, ob dieser Zusammenhang auch in den Geweben besteht, die das eigentliche Ziel des Coronavirus sind, also in der Lunge und im Darm. Und tatsächlich fanden wir FXR auch in Organoiden, die wir aus Lungen- oder Darmzellen gewonnen hatten, und auch dort bewirkte eine Behandlung mit Gallensäuren zunächst ein Ansteigen von FXR und danach von ACE-2.“
Die spannende Frage war nun, ob sich der Prozess auch umkehren ließ: Könnte man die Menge der ACE-2-Rezeptoren über diesen Weg auch senken? „Wir hatten das Glück, dass es bereits Medikamente auf dem Markt gibt, die die Konzentration an Gallensäuren senken im Zusammenhang mit Lebererkrankungen. Diese Substanzen gaben wir zu den verschiedenen Organoiden aus Leber, Lunge und Darm, und tatsächlich verringerte sich daraufhin die Konzentration der ACE-2-Rezeptoren.
Prinzip funktioniert auch in Organoiden und Tieren…
In einem nächsten Schritt infizierten die Wissenschaftler*innen Organoide von Leber, Lunge oder Darm mit SARS-CoV-2-Viren, die sie aus Nasenabstrichen von infizierten Patient*innen gewonnen hatten. EInen Teil der Organoide hatten sie mit dem Medikament vorbehandelt, einen zweiten Teil nicht. Und in der Tat bewirkte das Medikament, dass die Infektionsrate stark zurückging.
Auch Mäuse und Hamster, denen die Forscher*innen das Medikament verabreichten, zeigten deutlich weniger ACE-2-Rezeptoren in ihren Nasen-, Lungen-, Leber- und Darmepithelzellen. Und tatsächlich schützte das Medikament Hamster vor einer Infektion mit dem Virus: Von sechs unbehandelten Hamstern steckten sich alle bei einem weiteren, infizierten Tier an, wurden krank und verloren an Gewicht. Von neun mit dem Medikament vorbehandelten Tieren steckten sich nur drei an und erkrankten auch weniger schwer. „Wir konnten damit zeigen, dass das Medikament tatsächlich einer Infektion wirksam vorbeugt“, sagt Ludovic Vallier. „Allerdings wollten wir das natürlich für Menschen zeigen, nicht für Hamster.“
…und schließlich auch im Menschen
Die Wissenschaftler*innen untersuchten im nächsten Schritt menschliche Lungen, die außerhalb des Körpers durchblutet und beatmet wurden. Die beiden Lungenflügel wurden getrennt voneinander durchblutet, um den Effekt des Medikaments auf ein und dasselbe Organ überprüfen zu können. Folgerichtig durchbluteten sie den einen Lungenflügel mit einer behandlungsüblichen Konzentration des Medikaments, den anderen mit Placebo. Der zu Beginn des Experiments noch gleiche ACE-2-Spiegel in den beiden Lungenhälften veränderte sich daraufhin: Im behandelten Teil fiel er stark ab. Als die Forscher*innen die beiden Lungenflügel anschließend mit SARS-CoV-2 infizierten zeigte sich, dass die Vorbehandlung mit dem Medikament die Infektion tatsächlich deutlich behinderte.
In einem anschließenden Test erhielten acht Freiwillige das Medikament in der üblichen Dosierung für sechs Tage. „Danach haben wir in ihrem Nasenabstrich festgestellt, dass sich die Konzentration des ACE-2-Rezeptors auf ihren Nasenepithelzellen deutlich reduziert hatte. Auch im Serum von Patienten mit angeborenen Lebererkrankungen, die das Medikament schon längere Zeit eingenommen hatten, zeigten sich niedrigere ACE-2-Konzentrationen als bei Patienten, die das Medikament nicht einnahmen. Schließlich fand sich auch in Daten über Patienten mit Lebererkrankungen, die zusätzlich an COVID-19 erkrankt waren, dass die mit dem Medikament behandelten Patienten deutlich mildere Krankheitsverläufe aufwiesen, seltener auf die Intensivstation mussten und seltener verstarben.
Günstig und nebenwirkungsarm
Dabei hätte ein Medikament, das sich gegen ein körpereigenes Molekül richtet, einige Vorteile gegenüber einem Medikament, das sich gegen das Virus richtet. Anders als das Virus verändert sich der körpereigene ACE-Rezeptor nicht, so dass weniger Resistenzen zu befürchten sind. Da es bereits seit vielen Jahren eingesetzt wird, weiß man, dass es auch langfristig gut verträglich ist. Es ist patentfrei und daher zu niedrigen Kosten verfügbar.
„Wir sind natürlich begeistert von diesen Ergebnissen“, berichtet Ludovic Vallier, „denn wir glauben, dass wir eine Möglichkeit gefunden haben, COVID-19 sowohl vorbeugen als auch in ersten Stadien der Infektion behandeln zu können. Wir wissen aber natürlich genau, dass wir erst kontrollierte Klinische Studien durchführen müssen, um diese Hoffnung zu überprüfen. Aber falls es gelingt, hätten wir ein kostengünstiges, nebenwirkungsarmes und schnell und weltweit verfügbares Medikament in Händen, mit dem wir vielen Menschen gut helfen könnten. Und das ist unser Ziel!“
Originalpublikation: Teresa Brevini, Mailis Maes, Gwilym J. Webb, …..Ludovic Vallier and Fotios Sampaziotis; FXR inhibition may protect from SARS-CoV-2 infection by reducing ACE2. Nature (2022). https://doi.org/10.1038/s41586-022-05594-0
Über das Berlin Institute of Health in der Charité (BIH)
Die Mission des Berlin Institute of Health (BIH) ist die medizinische Translation: Erkenntnisse aus der biomedizinischen Forschung werden in neue Ansätze zur personalisierten Vorhersage, Prävention, Diagnostik und Therapie übertragen, umgekehrt führen Beobachtungen im klinischen Alltag zu neuen Forschungsideen. Ziel ist es, einen relevanten medizinischen Nutzen für Patient*innen und Bürger*innen zu erreichen. Dazu etabliert das BIH als Translationsforschungsbereich in der Charité ein umfassendes translationales Ökosystem, setzt auf ein organübergreifendes Verständnis von Gesundheit und Krankheit und fördert einen translationalen Kulturwandel in der biomedizinischen Forschung. Das BIH wurde 2013 gegründet und wird zu 90 Prozent vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und zu zehn Prozent vom Land Berlin gefördert. Die Gründungsinstitutionen Charité – Universitätsmedizin Berlin und Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC) waren bis 2020 eigenständige Gliedkörperschaften im BIH. Seit 2021 ist das BIH als so genannte dritte Säule in die Charité integriert, das MDC ist Privilegierter Partner des BIH.
Foto: Pexels/ Polina Tankilevitch