Aussicht auf eine neue Therapieoption beim Schlaganfall
Wissenschaftler:innen und Neurolog:innen aus Mainz, Köln und Münster entschlüsseln bisher unbekannte Mechanismen im Gehirn
Eine Gruppe von Wissenschaftler:innen und Kliniker:innen der Universitätsmedizin Mainz, der Universität zu Köln und der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster – Medizinische Fakultät hat einen völlig neuen Ansatz zur Behandlung des Schlaganfalls entdeckt: Sie konnte nachweisen, dass ein spezifischer Signalweg der Lysophosphatsäure (LPA), ein bioaktives Lipid im Gehirn, die Erregbarkeit von Nervenzellen nach einem Schlaganfall reguliert und so die Schwere der Beeinträchtigung bei den Betroffenen beeinflusst. Gesteuert wird dieser LPA-Signalweg durch das Enzym Autotaxin (ATX). Im experimentellen Modell zeigte sich, dass durch eine Hemmung von ATX auch noch Stunden nach dem Schlaganfall die Erregbarkeit von Netzwerken im Gehirn reduziert werden konnte. Dies führte dazu, dass die Folgen des Schlaganfalls weniger gravierend waren. Die Ergebnisse der Untersuchungen wurden jetzt in der renommierten Fachzeitschrift „Science Translational Medicine“ veröffentlicht.
Bei einem durch einen Gefäßverschluss ausgelösten (ischämischen) Schlaganfall kommt es zu einer unzureichenden Blut- und damit auch ungenügenden Sauerstoff- und Nährstoffversorgung des Gehirns. In der Folge werden große Mengen von Botenstoffen, sogenannte Neurotransmitter, im Gehirn freigesetzt. Insbesondere die übermäßige Ausschüttung des Neurotransmitters Glutamat verursacht eine Reizüberflutung der Hirnzellen. Diese kann zu einer Funktionsstörung von Nervenzellen und zu ihrem Absterben führen. Als weitere Konsequenz geht Hirngewebe dauerhaft verloren, was wiederum bleibende Behinderungen verursachen kann.
Gegenwärtig zielen Schlaganfallbehandlungen darauf ab, funktionell beeinträchtigtes, aber noch lebensfähiges Gewebe zu retten. Dies geschieht, indem die Durchblutungsstörung so früh wie möglich medikamentös oder durch eine Katheterbehandlung behoben wird. Therapeutische Ansätze, die in die Signalübertragung des Gehirns eingreifen, um nach einem Schlaganfall das Hirngewebe soweit möglich am Leben zu erhalten, sind bislang nicht möglich.
Eine Gruppe um die Univ.-Professor:innen Dr. med. Johannes Vogt (Medizinische Fakultät der Universität zu Köln), Dr. med. Frauke Zipp (Universitätsmedizin Mainz) und Dr. med. Dr. phil. Robert Nitsch (Medizinische Fakultät der Universität Münster), hat jetzt gezeigt, dass die Steuerung der Erregbarkeit von Nervenzellen durch die Lysophosphatsäure (LPA) eine wesentliche Bedeutung für den Verlauf des Schlaganfalls hat: Erhöhte synaptische Lipidsignale verstärken die durch Glutamat ausgelöste Reizüberflutung. Hierbei spielt das Molekül Autotaxin (ATX) eine zentrale Rolle.
Nach einem experimentellen Schlaganfall konnte ein langanhaltender Anstieg der ATX-Konzentrationen und des die Erregung stimulierenden LPA im Gehirn nachgewiesen werden. Professor Vogt erklärt: „Wir haben über Genmutation und pharmakologische Hemmung von ATX auch noch Stunden nach einem experimentellen Schlaganfall zeigen können, dass sich die über LPA gesteuerte Erregbarkeit des Gewebes hemmen lässt und sich so der Verlauf des Schlaganfalls deutlich verbessert.“
Die Mainzer Neurologin Professorin Zipp verbindet mit den Befunden eine wichtige klinische Perspektive: „Da bei den Betroffenen nach dem Schlaganfall sowohl die ATX- als auch die LPA-Konzentration im Liquor, also in der Gehirn-Rückenmarksflüssigkeit, erhöht ist, ergeben sich neue Therapiemöglichkeiten, die auch noch nach dem eigentlichen Schlaganfall greifen könnten.“
Professor Nitsch sieht einen wichtigen translationalen Schritt für eine neue Medikamentenentwicklung: „Tatsächlich zeigen die Daten, dass Patienten mit einem gestörten synaptischen LPA-Signalweg von einem Schlaganfall stärker betroffen sind. Das ist ein starker Hinweis auf einen möglichen Therapieerfolg durch ATX-Hemmer, die wir derzeit gemeinsam mit dem Hans-Knöll-Institut in Jena entwickeln.“
Die neuen Erkenntnisse zur Übererregbarkeit neuronaler Netzwerke und einer neuen Möglichkeit ihrer therapeutischen Korrektur könnten zukünftig nicht nur für den Schlaganfall, sondern auch für andere neurologische und psychiatrische Erkrankungen relevant sein.
Der Schlaganfall ist weltweit die häufigste Ursache für Behinderungen und die zweithäufigste Todesursache. In Deutschland erleiden jährlich rund 270.000 Menschen einen Schlaganfall. In der Mehrheit der Fälle handelt es sich um eine Ischämie, bei der es zur Verstopfung einer Arterie im Gehirn kommt, die eine Durchblutungsstörung verursacht.
Weitere Informationen:
Originalpublikation: Lynn Bitar*, Timo Uphaus*, Carine Thalman*, Muthuraman Muthuraman, Luzia Gyr, Haichao Ji, Micaela Domingues, Heiko Endle, Sergiu Groppa, Falk Steffen, Nabin Koirala, Wei Fan, Laura Ibanez, Laura Heitsch, Carlos Cruchaga, Jin-Moo Lee, Florian Kloss, Stefan Bittner, Robert Nitsch#, Frauke Zipp#, Johannes Vogt#. Inhibition of the enzyme autotaxin reduces cortical excitability and ameliorates the outcome in stroke. Science Translational Medicine, 20 April 2022, Vol 14, Issue 641.DOI: 10.1126/scitranslmed.abk0135
*equally contributing first authors, #equally contributing senior authors
Foto: Pexels/ Gustavo Fring