Alle werden schwanger, nur wir nicht – was Paaren mit unerfülltem Kinderwunsch hilft
Ein unerfüllter Kinderwunsch gehört in Deutschland noch immer zu den Tabuthemen und viele Betroffene fühlen sich ausgegrenzt. Auch aus anderen Gründen kann die Kinderwunschzeit sehr belastend sein: Paare erleben häufig ein Wechselbad der Gefühle und Beziehungsstress ist oft vorprogrammiert. Unser Kinderwunschexperte berichtet aus der Praxis, wie Paare damit umgehen und was ihnen wirklich hilft.
Für viele gerät die Welt ins Wanken, wenn sich ihr Kinderwunsch auf natürlichem Weg nicht verwirklichen lässt. Denn: Alle werden schwanger, nur wir nicht! Mit ärztlicher Unterstützung kann der Traum häufig dennoch in Erfüllung gehen, aber auch während einer Kinderwunschbehandlung können Paare einige Höhen und Tiefen durchlaufen.
Schon zum Erstgespräch im Kinderwunschzentrum kommen Paare in sehr unterschiedlicher psychischer Verfassung. Unser Experte Dr. med. Sascha Tauchert erlebt Paare, die entspannt wirken, aber auch viele Paare, die erst nach einer langen Zeit des Probierens und teilweise mit vielen Vorbefunden zu ihm kommen. Sascha Tauchert ist Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe mit dem Schwerpunkt Gynäkologische Endokrinologie & Reproduktionsmedizin und Teilhaber des Kinderwunschzentrums IVF-Saar.
Unerfüllter Kinderwunsch: Immer noch ein heikles Thema
In vielerlei Hinsicht ist unsere Gesellschaft offener geworden, z. B. im Umgang mit sexuellen Orientierungen. Leider gilt dies nicht für alle Themen. Über ungewollte Kinderlosigkeit zu sprechen, fällt vielen Betroffenen immer noch schwer. Eine Untersuchung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) verdeutlicht das: Von den ungewollt Kinderlosen beobachtet fast die Hälfte (47 %), dass ungewollte Kinderlosigkeit in der Gesellschaft stigmatisiert wird. Und mehr als die Hälfte (53 %) betrachtet einen unerfüllten Kinderwunsch als gesellschaftliches Tabuthema – Tendenz steigend. So hat die Empfindung „kein Kind zu haben, gilt in unserer Gesellschaft als Makel“ seit 2013 erheblich zugenommen: von 20 % auf 39 % (BMFSFJ 2020).
Initiativen und Info-Kampagnen wie das Kinderwunschportal des Bundesfamilienministeriums oder ‚Gemeinsam Familien gründen‘ tragen wesentlich dazu bei, ungewollte Kinderlosigkeit aus der Tabuzone zu holen. Die Info-Kampagne ‚Gemeinsam Familien gründen‘ erreichte in nur knapp zwei Monaten 750.000 Menschen in Deutschland – mit einem Info-Truck, der in sechs deutschen Großstädten Station machte, über Social Media, die Homepage www.familien-gruenden.de, Newsletter, Presse und Spots in ärztlichen Wartezimmern. Diese große Resonanz zeigt, wie groß der Bedarf an Information und Aufklärung ist und wie wichtig demzufolge seriöse Informationen sind.
Die unterschätzte Seite der Kinderwunschzeit
Zunächst stehen in der Kinderwunschzeit Vorfreude und Hoffnung im Vordergrund. Erfolglose Versuche, schwanger zu werden, können jedoch zu Traurigkeit und Enttäuschung, bis hin zu Verzweiflung, Ängsten oder gar Wut führen. Bei vielen Paaren leidet während der Kinderwunschzeit die Beziehung – und das Sexualleben: Alles dreht sich nur noch ums Schwangerwerden. Die Belastung der Paarbeziehung ist auch für Tauchert ein wesentlicher Punkt. Seiner Erfahrung nach kann eine psychologische Betreuung hier wesentlich zur Stabilisierung beitragen.
Ärztliche Betreuung und Behandlung stellen nach einem Jahr erfolgloser Versuche, schwanger zu werden, einen wichtigen Schritt auf dem Weg zum Wunschkind dar. Eine Kinderwunschbehandlung kann allerdings auch mit Belastungen einhergehen. Bei einer künstlichen Befruchtung besteht besonders in der Zeit zwischen der Gewinnung der Eizellen und ihrer Implantation sowie vor dem Schwangerschaftstest ein hoher Bedarf an Informationen und Unterstützung. Der Stresslevel steigt, wenn Paaren ein negatives Behandlungsergebnis mitgeteilt wird – besonders bei Paaren mit wenig Akzeptanz für ihre ungewollte Kinderlosigkeit (Gameiro 2015).
Wie Paare gut durch die Kinderwunschbehandlung kommen
Es gibt immer wieder Paare, die ihre Kinderwunschbehandlung als äußerst belastend empfinden und sogar einen vorzeitigen Abbruch der Behandlung in Erwägung ziehen (Wischmann 2019, Domar 2018). Eine gute ärztliche und psychologische oder psychotherapeutische Unterstützung kann die Belastung deutlich reduzieren und sich in vielerlei Hinsicht positiv auswirken – auf das Wohlbefinden der Paare, ihre emotionale Stabilität, ihren Umgang mit Behandlungsergebnissen und ihre Erfahrungen in der Kinderwunschzeit (Paraskevi 2021).
Paare, die schon eine Kinderwunschbehandlung durchgeführt haben, berichten, dass sie die professionelle Beratung sehr unterstützt und entlastet hat (BMFSFJ 2019). Kinderwunschexperte Dr. Tauchert bestätigt das: Von seinen Paaren, die eine psychologische Unterstützung in Anspruch nehmen, erhält er durchweg positive Rückmeldungen. Die Paare fühlen sich entlastet und oft hört er: „Das hätten wir schon viel früher machen sollen.“
Paaren, die beruflich oder/und privat sehr viel Stress haben, kann es in der Kinderwunschzeit guttun, ein wenig runterzufahren. Anderen geht es besser, wenn sie aktiv bleiben oder sogar noch aktiver werden. Das heißt aber nicht, sich den ganzen Tag dem Thema Kinderwunsch zu widmen, sondern z. B. ein neues berufliches Projekt zu starten. Dadurch rückt das Thema Kinderwunsch nicht zu sehr in den Vordergrund und steht im richtigen Verhältnis zu anderen Inhalten (Hartz 2022).
Psyche und Kinderwunsch: Mythen und Fakten
- „Positiv denken hilft.“
Stimmt. Ein positiver, sach- und lösungsorientierter Umgang hilft bei unerfülltem Kinderwunsch. Das Schmieden weiterer Lebenspläne verringert außerdem den psychischen Stress (Gameiro 2015). - „Frauen sprechen eher über ihre Probleme und leiden daher weniger unter einem unerfüllten Kinderwunsch und den Unwägbarkeiten einer Kinderwunschbehandlung als Männer.“
Stimmt nicht. Frauen leiden während der Kinderwunschzeit z. B. stärker unter Stress und Depressionen als Männer. Männer fühlen sich jedoch während der Kinderwunschbehandlung häufig weniger gut unterstützt und sozial isolierter (Gameiro 2015). - „Entspannt mal, dann klappt das mit dem Schwangerwerden schon.“
Ein gut gemeinter Tipp, hilft allein aber meistens nicht. Zudem setzten solche Binsenweisheiten die Betroffenen nur noch mehr unter Druck und legen ein eigenes Verschulden nahe. Bisher gibt es keine klaren Belege für einen negativen Einfluss von Stress auf die Wahrscheinlichkeit schwanger zu werden (Rooney 2018). Viele Frauen mit unerfülltem Kinderwunsch empfinden Stress dennoch als negativen Einflussfaktor. Bei einer Umfrage gaben 98 % der Teilnehmerinnen an, Stress sei wesentlichen Faktor oder Verstärker einer Unfruchtbarkeit (Negris 2021). - „Paare mit unerfülltem Kinderwunsch leiden schon vor der Behandlung vermehrt unter Depressionen, Ängsten und psychischen Erkrankungen.“
Stimmt nicht. Richtig ist, dass Paare mit unerfülltem Kinderwunsch nicht häufiger Depressionen und psychischen Erkrankungen aufweisen; bei Ängsten ist die Datenlage weniger eindeutig (Gameiro 2015). Eine aktuelle Untersuchung zeigte, dass ängstliche Frauen schneller schwanger wurden, da sie früher Hilfe im Kinderwunschzentrum suchten (Sallem 2021).
Mit Freunden und Verwandten sprechen – einfacher gesagt als getan
Während manche Paare sehr offen mit dem Thema unerfüllter Kinderwunsch umgehen, fällt anderen dies deutlich schwerer. Auch im Freundes- und Familienkreis wird das Thema unerfüllter Kinderwunsch häufig vermieden. Dahinter verbergen sich oft fehlendes Wissen und Unsicherheit im Umgang mit Betroffenen.
Für Frauen und Männer mit unerfülltem Kinderwunsch kann es hilfreich sein, sich aus dem Freundes- oder Familienkreis diejenigen für ein Gespräch auszuwählen, denen man die nötige Offenheit zutraut (Hartz 2022). Ein direkter, persönlicher Austausch kann den Betroffenen helfen und steigert ihre Lebensqualität (Steuber 2015). Für solche Gespräche stehen auch qualifizierte Fachkräfte, wie z. B. Kinderwunschpsycholog*innen zur Verfügung.
Obwohl Männer ebenso wie Frauen unter einer ungewollten Kinderlosigkeit leiden, fällt es ihnen teilweise schwerer, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Diese Erfahrung macht auch Dr. Tauchert. Seiner Einschätzung nach gibt es glücklicherweise positive Trends: Viele Paare öffnen sich zunehmend im Familien- und Freundeskreis und werden dort aufgefangen.
Tipps für Angehörige und Freunde: Unterstützung von Paaren mit Kinderwunsch
Wenn Freunde und Verwandte von dem unerfüllten Kinderwunsch und der damit verbundenen emotionalen Belastung wissen, möchten sie die Betroffenen meist unterstützen. Geeignete Worte zu finden ist in einer solchen Situation nicht immer leicht. Gut gemeinte Tipps wie „Fahrt doch mal wieder in Urlaub“ kommen meist nicht gut an. Verständnis zu äußern, zuzuhören, die Daumen zu drücken und alles Gute zu wünschen, werden meist eher geschätzt, ebenso wie Hilfsbereitschaft zu signalisieren, etwa mit der ehrlich gemeinten Frage „Wie kann ich Dir helfen?“ (Hartz 2022).
Möglichkeiten und Grenzen der Kinderwunschbehandlung
Viele Paare haben trotz der Vielzahl verfügbarer Informationen unzureichende Kenntnisse zu den natürlichen (Alters-)Grenzen ihrer Fortpflanzungsfähigkeit sowie den Möglichkeiten und Grenzen einer Kinderwunschbehandlung (Mills 2015). Eine individuelle Beratung durch Frauenärztinnen und -ärzte, Urologen und Urologinnen sowie Kinderwunschzentren kann hier Klarheit bringen.
Aus psychologischer Sicht kann es für Paare hilfreich sein, vor und während einer Kinderwunschbehandlung einen persönlichen Rahmen festzulegen. Er orientiert sich daran, wieviel sich das Paar zutraut und wie die weitere Perspektive aussieht (Hartz 2022). Folgende Fragen können dabei im Raum stehen: Wo stehe ich gerade? Was traue ich mir / uns zu? Wie sieht unser finanzieller und zeitlicher Rahmen aus? Welche Aussichten habe ich / haben wir? Benötigen wir Unterstützung? Beim Nachdenken oder Sprechen über diese Punkte können die Paare viel Klarheit über ihren Kinderwunsch gewinnen. Dies kann eine gute gemeinsame Basis und Motivation für eine Kinderwunschbehandlung bilden.
Wie viele Behandlungszyklen sinnvoll sind
Wie viele Behandlungen aus medizinischer Sicht sinnvoll sind, ist individuell unterschiedlich und z. B. sehr vom Alter der Frau abhängig. Der Kinderwunschexperte rät nach einigen Behandlungen (IVF, In-Vitro-Fertilisation oder ICSI, Intrazytoplasmatische Spermieninjektion) und Erfolgschancen < 10 % dazu, über eine Beendigung der Behandlung nachzudenken. Dr. Tauchert spricht mit seinen Patient*innen dann offen über die weiteren Möglichkeiten und Perspektiven. Dazu zählen Adoption, Pflegekind oder ein Leben zu zweit.
Die Eizellspende ist in Deutschland nicht erlaubt. Viele betroffene Patient*innen nehmen daher eine entsprechende Behandlung im Ausland wahr. Tauchert – wie viele seiner Kolleg*innen – bedauert das sehr: „Wir bieten in Deutschland eine qualitativ sehr gute Kinderwunschbehandlung an. Deshalb hoffen wir, dass auch hier bald eine Eizellspende möglich sein wird.“ In Österreich besteht diese Behandlungsmöglichkeit seit 2015, in anderen Ländern wie Spanien und Tschechien schon seit vielen Jahren. Umso bedauerlicher ist es für Dr. Tauchert, wenn er Paare in dieser Situation nicht mehr weiter betreuen kann.
Langfristige Situation von Paaren mit (zunächst) unerfülltem Kinderwunsch
Nach erfolglosen Kinderwunschbehandlungen kommen Paare – manchmal auch auf Anraten des Kinderwunschexperten – zum Schluss, dass dieser Weg für sie nicht weiterführt. Diese zunächst meist schmerzliche und mit Trauer und Enttäuschung verbundene Perspektive kann neue Handlungsspielräume eröffnen. Anstelle der enttäuschten Hoffnung, des Wechselspiels von Erwartung und Enttäuschung, Verzweiflung und Trauer kann dann die Auseinandersetzung und Planung neuer Lebensentwürfe treten.
Frauen, denen der Abschied vom Kinderwunsch nicht gelingt und bei denen auch nach drei bis fünf Monaten der intensive Wunsch nach einem eigenen Kind fortbesteht, entwickeln oft Ängste und Depressionen – deutlich häufiger übrigens als Frauen, die andere Pläne verfolgt oder Kinder adoptiert haben (Gameiro 2015). Langfristig gelingt es aber den meisten Paaren, die mitunter krisenhafte Erfahrung ungewollter Kinderlosigkeit zu überwinden und wieder eine so hohe Lebensqualität wie vorher zu erzielen (Wischmann 2019, Weblus 2019).
Quellen:
BMFSFJ. Ungewollte Kinderlosigkeit 2020. https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/ungewollte-kinderlosigkeit-2020-161020, abgerufen am 29.06.2022.
Gameiro S, Boivin J, Dancet E et al. ESHRE guideline: routine psychosocial care in infertility and medically assisted reproduction-a guide for fertility staff. Hum Reprod 2015; 30 (11): 2476–2485.
Wischmann T, Kentenich H. Psychosomatisch orientierte Diagnostik und Therapie bei Fertilitätsstörungen, Stand: 16.12.2019, https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/016-003.html, abgerufen am 22.03.2022.
Domar AD, Rooney K, Hacker MR et al. Burden of care is the primary reason why insured women terminate in vitro fertilization treatment. Fertil Steril 2018; 109 (6): 1121–1126.
Paraskevi L, Antigoni S, Kleanthi G. Stress and anxiety levels in couples who undergo fertility treatment: a review of systematic reviews. Mater Sociomed 2021; 33 (1): 60–64.
BMFSFJ. Ungewollte Kinderlosigkeit. Was Betroffene bewegt – und warum eine professionelle psychosoziale Beratung hilfreich ist und sie unterstützen kann. 2019. https://www.bmfsfj.de/resource/blob/95424/290e463285294e07a0057b5849ab0440/ungewollte-kinderlosigkeit-was-betroffene-bewegt-broschuere-psychosoziale-beratung-data.pdf, abgerufen am 28.06.2022.
Hartz M, Schulze S. Alles Kopfsache? Muss ich erst loslassen, damit es klappen kann? Podcast #7, 2022 https://www.informationsportal-kinderwunsch.de/kiwu/kinderwunschzeit/podcast, abgerufen am 04.07.2022.
Rooney KL, Domar AD. The relationship between stress and infertility. Dialogues Clin Neurosci 2018; 20 (1): 41–47.
Negris O, Lawson A, Brown D et al. Emotional stress and reproduction: what do fertility patients believe? J Assist Reprod Genet 2021; 38 (4): 877–887.
Sallem A, Essoussi H, Mustapha HB et al. Impact of psychological stress on the outcomes of assisted reproduction in Tunisian infertile women. Pan Afr Med J 2021; 40: 250.
Steuber KR, High A. Disclosure strategies, social support, and quality of life in infertile women. Hum Reprod 2015; 30 (7): 1635–1642.
Mills TA, Lavender R, Lavender T. „Forty is the new twenty“: An analysis of British media portrayals of older mothers. Sex Reprod Healthc 2015; 6 (2): 88–94.
Weblus AJ. Psyche und unerfüllter Kinderwunsch – Einige relevante Aspekte. Gyne 07, 2019, https://dgpfg.de/blog/https-dgpfg-de-wp-content-uploads-2019-05-gyne-3-19-pdf-2/, abgerufen am 12.07.2022.
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