Psyche und COVID-19: Keine Einbahnstraße?
Es gab inzwischen vermehrt Hinweise auf psychische Folgen von COVID-19. In einer Netzwerk-Kohortenstudie mit 70 Mio. Patienten wurden nun gezeigt, dass COVID-19, verglichen mit einer Reihe anderer Krankheiten, das Risiko für psychiatrische Erkrankungen im Zeitraum von bis zu 90 Tagen nach Diagnose erhöht. Es ergaben sich auch Hinweise auf psychiatrische Risikofaktoren für COVID-19. Weitere Studien und vermehrte Aufmerksamkeit für psychiatrische Risikofaktoren und Folgen von COVID-19 sind demnach nötig.
Adverse gesundheitliche Konsequenzen von COVID-19 für die Psyche, beispielsweise Ängste und Depression, wurden bereits frühzeitig erwartet, aber sind bislang nicht akkurat gemessen worden. Es bestehen eine Reihe von körperlichen Risikofaktoren für COVID-19, aber es ist nicht bekannt, ob es auch psychiatrische Risikofaktoren gibt.
Beeinflussen sich psychiatrische Erkrankungen und COVID-19 gegenseitig?
Die vorliegende Netzwerk-Kohortenstudie wurde auf Basis von elektronischen Gesundheitsdaten durchgeführt. Anhand dieser Daten wurde ermittelt, ob die Diagnose COVID-19, verglichen zu anderen gesundheitlichen Ereignissen, mit einer erhöhten Rate folgender psychiatrischer Diagnosen einherging. Außerdem wurde untersucht, ob Patienten mit einer psychiatrischen Erkrankung in ihrer Vergangenheit ein höheres Risiko für eine COVID-19-Diagnose hatten.
Netzwerk-Kohortenstudie: ~70 Mio. Patienten, darunter 62 354 mit COVID-19
Die klinischen Daten wurde aus einem Netzwerk gewonnen, das anonymisierte Daten von 54 Gesundheitsorganisationen in den USA umfasst, von insgesamt 69,8 Millionen Patienten. 62 354 Patienten erhielten zwischen 20. Januar und 1. August 2020 die Diagnose COVID-19. Die Wissenschaftler erstellten Kohorten von Patienten, die die Diagnose COVID-19 oder eine Reihe anderer gesundheitlicher Ereignisse hatten. Bei diesen wurde bestimmt, ob bestimmte Risikofaktoren einen Einfluss auf COVID-19 oder den Schweregrad hatten. Die Inzidenz bzw. Risikorate (hazard ratios, HR mit Konfidenzintervall, CI) von psychiatrischen Erkrankungen, Demenz und Insomnien wurden während der ersten 14 bis zu 90 Tage nach der COVID-19-Diagnose bestimmt.
Psychiatrische Erkrankungen nach COVID-19 oder nach anderen Krankheiten
Bei Patienten ohne vorherige psychiatrische Erkrankung war eine Diagnose mit COVID-19 assoziiert mit einer erhöhten Inzidenz einer ersten psychiatrischen Diagnose in den darauffolgenden 14 bis 90 Tagen, verglichen mit sechs anderen Erkrankungen:
- Vs. Influenza: HR: 2,1; 95 % CI: 1,8–2,5
- Vs. andere Atemwegsinfekte: HR: 1,7; 95 % CI: 1,5–1,9
- Vs. Hautinfektionen: HR: 1,6; 95 % CI: 1,4–1,9
- Vs. Cholelithiasis: HR: 1,6; 95 % CI: 1,3–1,9
- Vs. Urolithiasis: HR: 2,2; 95 % CI: 1,9–2,6
- Vs. Frakturen eines großen Knochens: HR: 2,1; 95 % CI: 1,9–2,5
Alle diese Vergleiche waren statistisch signifikant mit p < 0,0001. Die Risikorate HR war für Angsterkrankungen, Insomnien und Demenz am größten. Ähnlich, wenn auch mit kleineren Risikoraten, sah es bei Rückfällen und neuen Diagnosen aus. Die Inzidenz jeder Art von psychiatrischer Diagnose lag in den 14 bis 90 Tagen nach der COVID-19-Diagnose bei 18,1 % (95 % CI: 17,6–18,6). Darunter fielen 5,8 % (95 % CI: 5,2–6,4) für die Erstdiagnose. Die Inzidenz einer Erstdiagnose Demenz in den 14 bis 90 Tagen nach der COVID-19-Diagnose betrug 1,6 % (95 % CI: 1,2–2,1) bei Menschen im Alter von über 65 Jahren.
COVID-19 erhöht die Inzidenz von Ängsten, Insomnien und Demenz
Eine psychiatrische Diagnose im vorhergehenden Jahr war mit einer höheren Inzidenz einer COVID-19-Diagnose assoziiert (relatives Risiko: 1,65; 95 % CI: 1,59–1,71; p < 0,0001). Dieses Risiko war unabhängig von bekannten gesundheitlichen Risikofaktoren für COVID-19. Die Autoren können allerdings nicht ausschließen, dass sozioökonomische Faktoren hierbei eine Rolle spielen könnten.
Erhöhtes Risiko für COVID-19 bei psychiatrischen Erkrankungen?
Überlebende der Erkrankung COVID-19 erscheinen demnach ein erhöhtes Risiko für psychiatrische Folgen zu haben. Außerdem könnte aber auch eine psychiatrische Diagnose ein unabhängiger Risikofaktor für COVID-19 sein – dies müsste allerdings in anderen Ländern überprüft werden, um Unterschiede in Gesundheitsversorgung und sozialem Netz als relevante Faktoren ausschließen zu können. Weitere prospektive Studien sind demnach notwendig.
[DOI: 10.1016/S2215-0366(20)30462-4]
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Referenz: Taquet, Maxime, Sierra Luciano, John R Geddes, and Paul J Harrison. “Bidirectional Associations between COVID-19 and Psychiatric Disorder: Retrospective Cohort Studies of 62 354 COVID-19 Cases in the USA.” The Lancet Psychiatry 8, no. 2 (February 2021): 130–40. https://doi.org/10.1016/S2215-0366(20)30462-4.
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