Magersucht und Risikoschwangerschaft: Neue Projekte an der Charité
Innovationsausschuss fördert vier Ansätze für neuartige Versorgungsformen
Die gesundheitliche Versorgung in Deutschland soll immer besser werden. Aus diesem Grund fördert der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) regelmäßig die Erprobung neuer Konzepte für die Regelversorgung aus Mitteln des Innovationsfonds. Forschende der Charité – Universitätsmedizin Berlin leiten erneut vier dieser Projekte im Bereich der Neuen Versorgungsformen, außerdem ist sie an vier Vorhaben beteiligt.
Der Einsatz digitaler Technologien, hausärztliche Versorgung und Versorgungsmodelle für Kinder und Jugendliche stehen im Mittelpunkt der neuen, an der Charité geleiteten Projekte. Die in den kommenden Jahren zu erprobenden Versorgungskonzepte gelten insbesondere vulnerablen Personengruppen unterschiedlichen Alters mit besonderen gesundheitlichen Herausforderungen ihres jeweiligen Lebensabschnittes. Die neuen Projekte im Einzelnen:
Ambulante Therapie bei Magersucht – telemedizinisch und in der Familie
Die familienbasierte Therapie ist eine ambulante Behandlungsmöglichkeit für junge Menschen mit Essstörungen. Von Anfang an werden dabei die Eltern eng einbezogen. In Deutschland ist diese Therapieform noch kaum verbreitet, in den USA und England hingegen wird sie als evidenzbasierte Therapie der ersten Wahl empfohlen. Bisherige Studien haben die familienbasierte Therapie ausschließlich mit anderen ambulanten Therapieformen verglichen. Jetzt soll die Wirksamkeit erstmals der vollstationären Therapie gegenübergestellt werden, die bei schwer erkrankten Kindern und Jugendlichen etwa drei bis sechs Monate dauern kann.
An 20 Studienzentren in ganz Deutschland und in Zusammenarbeit mit zehn Krankenkassen werden im Rahmen der FIAT-Studie 100 Erkrankte im Alter von acht bis 17 Jahren telemedizinisch mit einer familienbasierten Therapie behandelt. Ihr Krankheitsverlauf wird in den folgenden zwölf Monaten mit dem von 100 Kindern und Jugendlichen verglichen, die die stationäre Standardbehandlung erhalten haben. Zeigt sich die ambulante, telemedizinisch begleitete Therapie der stationär einsteigenden Regelversorgung nicht unterlegen, könnten Betroffene davon profitieren. Der Vorteil: lange Wartezeiten auf einen stationären Therapieplatz entfallen, Kinder und Jugendliche könnten zudem in ihrem schulischen und sozialen Umfeld bleiben. Auch strukturschwache Regionen Deutschlands könnten perspektivisch mit der telemedizinischen, familienbasierten Therapie besser versorgt und Kosten im Gesundheitssystem gesenkt werden.
Projekt: Familienbasierte telemedizinische vs. institutionelle Anorexia nervosa-Therapie (FIAT)
Leitung: Dr. Verena Haas und Prof. Christoph U. Correll, Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters
Förderung: rund 6,9 Millionen Euro für vier Jahre
Neues ambulantes Versorgungskonzept für ältere gebrechliche Patient:innen
Im höheren Lebensalter treten meist mehrere Krankheiten gleichzeitig auf und gesundheitliche Einschränkungen häufen sich. Um dem Versorgungsbedarf dieser Patient:innen gerecht zu werden, braucht es in Deutschland eine Stärkung der hausärztlichen Versorgung und eine Erweiterung der Angebote. Derzeit gibt es keine strukturierten Behandlungskonzepte für geriatrische Patient:innen. Projektziel ist daher, eine ambulante, interdisziplinäre und interprofessionellen Versorgung älterer, mehrfach erkrankter, gebrechlicher Menschen zu etablieren. Koordiniert werden die Angebote in einem wohnortnahen Behandlungszentrum, wobei auch mobilitätseingeschränkten Personen der Zugang ermöglicht wird. Hausärzt:innen, Psycholog:innen und weitere Heilmittelerbringende tragen zu der Versorgung bei.
Zunächst werden ältere Menschen aus Mecklenburg-Vorpommern an dem intensivierten Behandlungsprogramm teilnehmen. Es beinhaltet unter anderem Heilmittelbehandlungen, vorrangig als Gruppentherapien, Ernährungsberatung oder auch Sehhilfen und Hörgeräteanpassungen. Eine Kontrollgruppe erhält weiterhin die Regelversorgung. Das neue Versorgungskonzept ist durch praktizierende Hausärzt:innen im ländlichen Raum aus der Praxis heraus entwickelt worden. Seine Wirksamkeit wird anhand von Daten zur Selbständigkeit, Gebrechlichkeit, Lebensqualität und Kostenentwicklung ausgewertet.
Projekt: Modellprojekt zur intensivierten interprofessionellen ambulanten Therapie geriatrischer Patient:innen (InATheGer)
Leitung: PD Dr. Lorena Dini, MScIH, Institut für Allgemeinmedizin
Förderung: rund 3,1 Millionen Euro für drei Jahre
Digitale Fernüberwachung von Risikoschwangerschaften
Präeklampsie ist eine Bluthochdruckerkrankung in der Schwangerschaft. Sie tritt bei rund drei bis fünf Prozent der Schwangeren auf und ist eine der Hauptursachen für lebensgefährliche Komplikationen bei Mutter und Kind. Unspezifische Symptome, die bis zu 15 Prozent aller Schwangeren betreffen, führen häufig zu Verunsicherung und unnötigen stationären Aufenthalten. In anderen Fällen werden akute Verläufe verkannt und die Vorstellung in einem Perinatalzentrum erfolgt zu spät.
Das Projekt PreFree stellt eine digitale Entscheidungshilfe und Fernüberwachungsplattform für Schwangere mit hohem Verdacht auf Präeklampsie zur Verfügung. Mithilfe maschinellen Lernens kalkuliert ein Algorithmus das Komplikationsrisiko basierend auf klinischen Routinedaten. Schwangere mit niedrigem Risiko erhalten eine App, die mit einem Server auf Klinikseite vernetzt ist, und in die sie selbst gemessene Blutdruckwerte eingeben. Um zu prüfen, ob die Patientinnen damit mehr Tage ihrer Schwangerschaft zu Hause verbringen können und dabei genauso sicher versorgt sind, wird eine prospektive, multizentrische Studie mit 848 Schwangeren an zehn Kliniken im gesamten Bundesgebiet durchgeführt. Im Erfolgsfall könnte die neue ambulante Versorgungsform auf ganz Deutschland übertragen werden.
Projekt: Sektorenübergreifende Versorgung von Risikoschwangerschaften mittels digitaler Fernüberwachung und Entscheidungshilfe (PreFree)
Leitung: Prof. Stefan Verlohren, Klinik für Geburtsmedizin
Fördersumme: rund 3,9 Millionen Euro für drei Jahre
Telemedizinische Versorgung von Menschen, die zu Hause beatmet werden
Die Anzahl der Patient:innen, die in ihrem häuslichen Umfeld künstlich beatmet werden, steigt kontinuierlich. Jedes Jahr kommen bundesweit rund 15.000 Menschen neu hinzu. Erfolgt eine Heimbeatmung invasiv über eine Kanüle, ist die Versorgung besonders aufwändig. Kontrolliert wird eine Beatmungstherapie in spezialisierten Zentren für außerklinische Beatmung, entweder stationär oder in Spezialambulanzen. Nicht immer geschieht dies bedarfsorientiert. Einige der Kontrollen stellen sich nachträglich als nicht notwendig heraus. In anderen Fällen führen schleichende klinische Verschlechterungen in der Häuslichkeit unbemerkt zu akuten Notfällen.
T-CABS steht für: Telemedizinisches Centrum für Außerklinische Beatmung und Sauerstofftherapie. Im gleichnamigen Projekt wollen Forschende mit telemedizinischer Unterstützung die Versorgung ambulant beatmeter Menschen qualitativ verbessern. Im Mittelpunkt steht eine patientenzentrierte Gesundheitsversorgung, bei der medizinische Daten auf einer telemedizinischen Plattform erfasst werden. Neben Lungenfunktion und Beatmungsparametern umfassen sie auch die allgemeine körperliche Verfassung und die Lebenszufriedenheit. Bei Bedarf können Patient:innen Videosprechstunden mit medizinischen Fachkräften in Anspruch nehmen und es werden interdisziplinäre Fallkonferenzen durchgeführt.
Das neue digitale Angebot wird wissenschaftlich begleitet. Eine Studie mit zunächst 200 Betroffenen soll zeigen, ob die gewünschten Effekte eintreten. So erhoffen sich die Forschenden eine Stabilisierung der Lungenfunktion, eine Verbesserung der körperlichen Kondition und eine höhere Lebensqualität der ambulant beatmeten Menschen, verbunden mit mehr Selbstbestimmung. Idealerweise stellt die Plattform eine individuell angepasste Versorgung ambulant beatmeter Menschen sicher. Und sie trägt dazu bei, Komplikationen und belastende Transporte in die Klinik zu vermeiden.
Projekt: Telemedizinisches Centrum für Außerklinische Beatmung und Sauerstofftherapie (T-CABS)
Leitung: Prof. Martin Witzenrath und Dr. Carmen Garcia, Klinik für Pneumologie, Beatmungsmedizin und Intensivmedizin
Fördersumme: rund 5,5 Millionen Euro für drei Jahre
Die Charité ist darüber hinaus an folgenden Projekten als Konsortialpartnerin beteiligt:
EMPOWER-TRANS*: Innovative Informations- und Schulungskonzepte für Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie (GI/GD) und ihre Familien
Leitung: Universitätsklinikum Ulm
Projektleitung an der Charité: Prof. Sibylle Maria Winter, Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters
NAVIGATION: Nachhaltig versorgt im gemeindenahen Gesundheitszentrum – Gesundheit im Zentrum
Leitung: Gesundheitskollektiv Berlin e. V.,
Projektleitung an der Charité: Prof. Wolfram Herrmann, Institut für Allgemeinmedizin
WELCOME: Versorgung von Früh- und Reifgeborenen mit erhöhtem pflegerischen Nachsorgebedarf nach der Entlassung – digital und videogestützt
Leitung: Klinikum der Universität München
Projektleitung an der Charité: PD Dr. Antje Tannen, Institut für Klinische Pflegewissenschaft
GaViD-Sinne: Ganzheitliche Versorgungsstützpunkte und interdisziplinäre Diagnostik für Menschen mit Sinnesbehinderungen
Leitung: Deutsches Taubblindenwerk gGmbH
Projektleitung an der Charité: Dr. Anke Hirschfelder, Klinik für Audiologie und Phoniatrie und Prof. Daniel J. Salchow, Klinik für Augenheilkunde
Prof. Liane Schenk, Sprecherin der Plattform – Charité Versorgungsforschung: „Um optimale Konzepte für die gesundheitliche Versorgung in der Praxis zu etablieren, ist es zentral, alle erforderlichen Fachdisziplinen und Berufsgruppen wohnortnah oder auch unterstützt durch digitale Technologien einzubeziehen. Neben den besten medizinischen Lösungen sind hierbei für die Patientinnen und Patienten auch Lebensqualität und Selbstbestimmtheit im Alltag wesentliche Aspekte, die es zu ermöglichen gilt.“
Projektförderung durch den Innovationsausschuss
Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hat seit 2016 den Auftrag, neue Formen der Versorgung, die über die bisherige Regelversorgung hinausgehen und Versorgungsforschungsprojekte, die auf einen Erkenntnisgewinn zur Verbesserung der bestehenden Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung ausgerichtet sind, zu fördern. Für die Durchführung der Förderung aus dem Innovationsfonds wurde beim G-BA ein Innovationsausschuss eingerichtet. Die gesetzlich vorgesehene Fördersumme für Neue Versorgungsformen und Versorgungsforschung beträgt in den Jahren 2020 bis 2024 jeweils 200 Millionen Euro. 80 Prozent der Mittel sollen für die Förderung innovativer Versorgungsformen verwendet werden, 20 Prozent der Mittel für die Förderung der Versorgungsforschung. Der Innovationsfonds wird von Mitteln der gesetzlichen Krankenkassen aus dem Gesundheitsfonds getragen.
Links:
Plattform – Charité Versorgungsforschung
Übersicht der neu geförderten Projekte
G-BA Pressemitteilung „Neue Versorgungsformen: Innovationsausschuss finanziert 19 Projektvorhaben“ vom 16.11.2023
Foto: Adobe Stock / Antonioguillem