Prof. Dr. Susanne Tittlbach hat an der Universität Bayreuth den Lehrstuhl Sportwissenschaft III – Sozial- und Gesundheitswissenschaften des Sports inne. Sie ist maßgeblich an der Entwicklung des Programms „Smart Moving“ beteiligt, das den Studienalltag bewegter und gesünder gestaltet. Im Interview analysiert sie, welche Folgen die soziale Isolation zuhause auf die Gesundheit haben kann und gibt Tipps, wie Menschen jeden Alters dennoch in Bewegung bleiben können.

Schüler bleiben bis Ende der Osterferien zuhause, alles fühlt sich nach „Ausgangssperre“ an.  Wie bekomme ich mein Kind weg vom Handy?

Jede noch so kleine Bewegung ist gut und sinnvoll! Die Wohngegebenheiten und das Alter der Kinder spielen natürlich eine große Rolle. Wenn ein Garten vorhanden ist, sollten die Kinder möglichst viel im Garten sein, da dort mehr Platz ist, um sich wirklich auszutoben, zum Rennen, Hüpfen und Ballspielen. Ist kein Garten da, in der Wohnung erfinderisch und kreativ werden. Und immer wieder aufstehen und sich Vorgaben dazu machen: z.B. Schularbeiten im Sitzen, Lesen im Stehen in einem anderen Raum, beim Fernsehen hüpfen etc. Und warum nicht mit digitalen Medien verknüpfen?

Wie?

Eltern sollten diese Medien nicht als „Feind“ sehen, sondern auch dafür nutzen, um die Attraktivität von Bewegung mit Medien zu erhöhen. Also, dem Kind vielleicht den eigenen Fitness-Tracker umbinden und die Aufgabe stellen, auf 1.000 Schritte zu kommen. Oder eine Challenge dazu veranstalten: Schafft der Papa oder das Kind den Tag über mehr Schritte in der Wohnung? Ein Wochenplan am Kühlschrank, um jeden Tag die Schritte zu dokumentieren, motiviert zusätzlich. Für jüngere Kinder eignen sich Tanzspiele und Apps mit Spielideen. Insgesamt gilt bei jüngeren Kindern, dass der Spielcharakter möglichst hoch sein sollte.

Und bei Teenagern?

Mit einem funktionalen Training via App kann man Kinder sicherlich wesentlich weniger motivieren, ältere Kinder und Jugendliche aber schon, deren Bewegungsmotiv oft auf Figurformung und Muskelzuwachs liegt. Für ein solches Programm zuhause gibt es hervorragende Übungen mit dem eigenen Körpergewicht. Ansonsten brauche ich eigentlich nur eine Matte oder einen Teppich und Übungsanleitungen, die sich in einer Vielzahl im Netz finden.

Was können Sie Schülern und Studierenden empfehlen, die in der Unterrichts- bzw. Vorlesungspause zwangsweise mehr zuhause lernen müssen?

Im Projekt Smart Moving, das auf eine Bewegungserhöhung und Sitzverringerung von Studierenden abzielt und das die Uni Bayreuth in Kooperation mit dem Kompetenzzentrum Ernährung (KErn), der Universität Regensburg und der Techniker Krankenkasse durchführt, wurden am Bayreuther und am Regensburger Campus Ideen für mehr Bewegung und weniger Sitzen entwickelt. Die Videos, die in diesem Zusammenhang entstanden, können in der aktuellen Situation Studierende beim Lernen zuhause, aber auch Schülern und Erwachsenen helfen, Sitzzeiten zu minimieren. Hier finden Sie diese Videos: https://www.youtube.com/playlist?list=PLq8ER4S3y9W60FspnRyPJt1dK-AFJWKyC

Was mache ich als älterer Mensch?

Solange Spaziergänge, die Menschen alleine durchführen, noch zulässig sind, sollten ältere Menschen diese Möglichkeit auch nutzen. Spaziergehen stellt quasi ein Ganzkörpertraining dar, das sowohl Ausdauer, Kraft als auch Koordination anspricht. Das ist sehr sinnvoll. Wenn Spaziergänge nicht mehr erlaubt sein sollten oder die ältere Person unter Quarantäne steht: Frischluft auf dem Balkon oder am offenen Fenster genießen. Und auch hier gibt es Übungen: Wer noch gut stehen kann, kann sich am Fensterrahmen festhalten und kleinere gymnastische Übungen durchführen, z.B. Gewichtsverlagerung von einem Bein auf das andere, leichte Kniebeugen, ein Bein abspreizen und hochziehen mit Beinwechsel, beide Beine fest auf dem Boden und den Oberkörper langsam nach rechts und links rotieren. Jeder macht so viel, wie die eigenen Kräfte erlauben – auch kleinste Bewegungen sind sinnvoll! Oder im Sitzen: Fahrradfahren oder gestreckte Beine überkreuzen. Möglichst oft die Position ändern, auch mal stehen, beim Telefonieren auf und ab gehen, etc. Auch das bringt den Kreislauf in Schwung und aktiviert!

Wenn die Menschen nun wochenlang quasi zuhause bleiben, befürchten Sie dann Folgen, z.B. eine „Adipositas-Epidemie“?

Eigentlich haben wir schon eine „Adipositas-Epidemie“ in unserer Gesellschaft bzw. eine „Adipositas-Pandemie“ weltweit. Der Unterschied zur aktuellen Pandemie ist nur, dass die Erkrankung nicht übertragbar im Sinne einer Virusinfektion ist. Ansteckend sind Adipositas, Diabetes und Co nicht, dennoch sind sie für eine Vielzahl an Todesfällen weltweit verantwortlich. Das geht oft etwas unter, weil es im ersten Moment nicht so bedrohlich wirkt, wie das nun beim Virus der Fall ist. Für die Adipositas-Rate in der Gesellschaft ist das Bewegungsverhalten aber nicht alleine ausschlaggebend, sondern ebenso das Ernährungsverhalten. Wichtig wäre daher aus meiner Sicht, dass den Menschen auch klargemacht wird, wie wichtig gerade jetzt ausgewogene, gesunde Ernährung ist, um gesundheitliche Folgen des Lock-Ins möglichst zu verringern.

Was befürchten Sie?

Je länger der Lock-In dauert, desto größer wird die Gefahr, dass sich die Verhaltensweisen von Personen (noch mehr) in die inaktive Richtung verändern. Wir wissen aus Studien, dass der Aufbau einer Verhaltensänderung zu mehr Bewegung, zu gesünderem Essen, Raucherentwöhnung etc. ein sehr langer, intensiver Prozess ist und dass die schwierigen Phasen (auch psychologisch gesehen) am Anfang der Verhaltensumstellung liegen. Eine Person, die es gerade erst geschafft hat, das wöchentliche Fitness-Training fest in ihren Wochenablauf zu integrieren, eine soziale Gruppe gefunden hat, in der sie sich beim Training wohlfühlt, wird große Mühe haben, das Ganze nach dem Lock-In zu reaktivieren. Zu befürchten ist daher eine noch größere Drop-Out Rate aus Bewegungsprogrammen (z.B. von den Krankenkassen, Fitness-Studios, Sportvereinen), auch nach Wiederöffnung unseres sozialen Lebens.

Sie beschäftigen sich mit den „Sozialwissenschaften des Sports“: Was kann ein „Lock-In“ sozial bedeuten?

Interessant ist ja, dass man erst dann bemerkt, was man an einer Sache hat, was diese Sache einem gibt, wenn man sie plötzlich nicht mehr hat. So wird das den Menschen auch bezüglich des Aussetzens der Spitzensportwettkämpfe, aber auch der breitensportlichen Trainingsgruppen gehen. Die sozialen Funktionen des Sports, auch im Hinblick auf Integration und Inklusion, gehen für die Zeit des Lock-Ins verloren. Soziale Kontakte werden daher fehlen – insbesondere für die Personen, die alleine leben und keine familiären Kontaktmöglichkeiten haben. Sport ist für viele Menschen, ob aktiv oder inaktiv als Zuschauer, ein Ort sozialer Beziehungen. Die identitätsstiftenden Prozesse für Aktive oder für inaktive Zuschauer und Fans des Sports sind immens, das fehlt nun. Sich als Teil der Trainingsgruppe zu fühlen, geht nur so richtig beim Training. Sich als Teil der Fangruppe einer bekannten Fußballmannschaft zu fühlen, geht am besten als Zuschauer im Stadion, im Vereinsheim oder beim Public Viewing – immer im sozialen Kontext. Meiner Ansicht nach wird der Sport diese Bedeutung aber auch angesichts COVID19 nicht verlieren. Das wird sich wieder reaktivieren lassen.