Stellungnahme zur „soziale Ansteckung“ bei Depression
Leipzig/ Frankfurt am Main. In jüngster Zeit wurde in verschiedenen Medien auf zwei Publikationen verwiesen, die den Eindruck erwecken, Depressionen könnten im sozialen Umfeld wie eine „ansteckende“ Erkrankung übertragen werden. Hintergrund sind zwei Studien aus Finnland und Dänemark: Die finnischen Forscher kamen zu dem Schluss, dass Schüler ein höheres Risiko für Depression hätten, wenn es mehr als zwei erkrankte Mitschüler in ihrer Klasse gibt (Alho et al., 2024). In der dänischen Studie wurde gezeigt, dass die Zahl der Depressionsdiagnosen in einem Unternehmen steigen, wenn psychisch erkrankte Mitarbeiter eingestellt werden (Kensbock et al., 2021).
Um von einer „Ansteckungsgefahr“ durch depressiv erkrankte Menschen zu sprechen, bedarf es robuster wissenschaftlicher Belege. Eine genaue Lektüre der beiden Arbeiten zeigt, dass diese aus methodischen Gründen in keiner Weise geeignet sind, eine „Ansteckungsgefahr“ zu belegen:
Veranlagung steht im Mittelpunkt
Eine Depression entsteht primär auf Basis einer vererbten oder erworbenen Veranlagung (z.B. durch Missbrauchserfahrungen in der frühen Kindheit). Menschen ohne eine solche Veranlagung erkranken auch bei extrem belastenden sozialen Einflüssen nicht an einer Depression – weder durch Nachahmung noch durch bloßen Kontakt.
Methodische Herausforderungen: Diagnoseraten versus tatsächliche Prävalenz
Die Häufigkeit diagnostizierter Depressionen hat sich in den letzten Jahrzehnten vervielfacht, ohne dass die vorliegenden repräsentativen Bevölkerungsstudien in Deutschland eine wesentliche Zunahme der Erkrankungsraten zeigen (Brettschneider et al., 2018). Vielfältige Faktoren führen zu dieser Zunahme der Depressionsdiagnosen: Die Bereitschaft, eine Depression bei sich selbst in Betracht zu ziehen und sich professionelle Hilfe zu holen, hängt vom Wissenstand der Betroffenen und Angehörigen sowie der Ärzte ab. Dieser Wissensstand ist in den letzten Jahren durch intensive Aufklärungsarbeit gewachsen (Deutschland-Barometer Depression). Hinzu kommt das Depressions-assoziierte Stigma: Wird Depression als behandlungsbedürftige Erkrankung wahrgenommen und nicht als Stimmungstief oder Reaktion auf die Widrigkeiten des Lebens, dann suchen Betroffene wahrscheinlicher einen Arzt oder Psychotherapeuten auf. Infolge der Entstigmatisierung der letzten Jahre wird die Diagnose Depression auch nicht mehr hinter anderen Begriffen und Diagnosen (z.B. Burnout, chronischer Rückenschmerz) versteckt.
Die naheliegendste Erklärung für die Befunde in den beiden oben genannten skandinavischen Studien ist deshalb, dass die Diagnosehäufigkeiten steigen, weil durch erkrankte Mitmenschen (wie Mitschüler oder Kollegen) das Stigma abnimmt, der Wissenstand zunimmt, das Hilfesuchverhalten sich verbessert und Depressionen daraufhin häufiger erkannt und diagnostiziert werden.
Schlussfolgerung und Empfehlung
„Es ist fatal und völlig unverantwortlich, basierend auf diesen Ergebnissen bei Millionen depressiv Erkrankten und deren Mitmenschen die Sorge zu schüren, dass von Erkrankten ein Infektionsrisiko ausgeht. Dies führt zu unbegründeten Schuldgefühlen, Ängsten, Distanzierungen und Stigmatisierungen. Wir verzeichnen einen Anstieg von Depressionsdiagnosen, weil mehr Menschen sich z.B. in Folge einer Entstigmatisierung Hilfe suchen. Das bedeutet allerdings nicht, dass es tatsächlich mehr depressive Erkrankungen gibt – diese werden nur besser erkannt und auch beim Namen genannt“ sagt Prof. Ulrich Hegerl, Vorstandsvorsitzender Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention
Über die Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention:
Depression erforschen – Betroffenen helfen – Wissen weitergeben
Die Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention hat sich die bessere Versorgung depressiv erkrankter Menschen und die Reduktion der Suizide in Deutschland zum Ziel gesetzt. Vorstandsvorsitzender ist Prof. Dr. Ulrich Hegerl. Die Schirmherrschaft hat der Entertainer und Schauspieler Harald Schmidt übernommen. Neben Forschungsaktivitäten bietet die Stiftung Betroffenen und Angehörigen unter ihrem Dach vielfältige Informations- und Hilfsangebote wie das deutschlandweite Info-Telefon Depression. In 90 Städten und Kommunen haben sich Bündnisse gebildet, die auf lokaler Ebene Aufklärung über die Erkrankung leisten. Die Arbeit erfolgt pharma-unabhängig. www.deutsche-depressionshilfe.de
Quellen
Alho, J., Gutvilig, M., Niemi, R., & et al. (2024). Transmission of mental disorders in adolescent peer networks. JAMA Psychiatry, 81(9), 882–888. https://doi.org/10.1001/jamapsychiatry.2024.1126
Bretschneider, J., Janitza, S., Jacobi, F., Thom, J., Hapke, U., Kurth, T., & Maske, U. E. (2018). Time trends in depression prevalence and health-related correlates: results from population-based surveys in Germany 1997-1999 vs. 2009-2012. BMC psychiatry, 18(1), 394. https://doi.org/10.1186/s12888-018-1973-7
Kensbock, J. M., Alkaersig, L., & Lomberg, C. (2022). The Epidemic of Mental Disorders in Business-How Depression, Anxiety, and Stress Spread across Organizations through Employee Mobility. Administrative Science Quarterly, 67(1), 1-48. https://doi.org/10.1177/00018392211014819
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